Sommerzeit / Uhrzeitverstellung – Wissenschaftliche Erkenntnisse werden ignoriert

Zeitumstellung Abschaffen

Es geht wieder einmal um die sogenannte „Sommerzeit“, ein ewig leidiges Thema. Dieses Thema ist so gut „durchgekaut“, dass man fast glauben mag, dass erstens nichts Neues mehr dazu zu sagen ist, und zweitens die Abschaffung dieser künstlichen Zeitverschiebung nur noch eine Frage der Zeit ist, die bislang ebenfalls mit Erfolg von der Politik verschoben wird.

Hier eine Übersicht der Beiträge, in denen ich auf die Probleme der zweimal jährlich erfolgenden Uhrenumstellungen eingehe:

Ein älterer Beitrag eines Humanbiologen, Dr. Peter Spork, aus dem Jahr 2010 verweist auf interessante Studien, die zum Thema Schlafentzug und genetisch bedingte Unterschiede beim Schlafbedürfnis durchgeführt worden sind: Weg mit der Sommerzeit! – Peter Spork.

Wissenschaftliche Erkenntnisse werden ignoriert

In dem soeben zitierten Beitrag wird eine Studie vorgestellt, die von Chronobiologen der University of Pennsylvania, USA, in 2010 durchgeführt worden sind. Doch bevor ich auf diese Studie eingehe, möchte ich auf eine Arbeit von den gleichen Autoren aus dem Jahr 2009 eingehen:

Sleep deprivation affects multiple distinct cognitive processes. – PubMed – NCBI

In dieser Arbeit stellen Van Dongen et al. fest, dass Schlafentzug gleich mehrere bestimmte kognitive Prozesse beeinträchtigen kann. Diese Beeinträchtigung betrifft die Fähigkeit zur Verarbeitung von Reizen bis hin zu peripheren Prozessen, die nicht der direkten Willenskontrolle unterworfen sind. Für die Autoren steht fest, dass Schlafentzug weitreichende Effekte mit sich bringt, wie zum Beispiel eine reduzierte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und eine eingeschränkte Fähigkeit zur zentralen Verarbeitung von Reizen. Die Autoren sehen dies als den Grund für eine generell eingeschränkte kognitive Funktion.

Die Ergebnisse sind zwar interessant, haben aber den Nachteil, dass der experimentelle Schlafentzug nicht auf einer generell verkürzten Schlafzeit beruhte, sondern auf einen Schlafentzug, der 62 Stunden dauerte.

Die vorhin angekündigte Studie von Van Dongen et al. aus dem Jahr 2010 ersetzte einen durchgehenden Schlafentzug durch eine Verkürzung der gewöhnlichen Schlafzeit bei den Testpersonen:

Time of day effects on neurobehavioral performance during chronic sleep restriction. – PubMed – NCBI 

In dieser Studie schliefen die Teilnehmer zwischen 4,2-8,2 Stunden täglich. Aber auch hier zeigte sich, wie in früheren Studien bereits gesehen, eine Reihe von Einschränkungen im kognitiven Bereich bei den Probanden, die in der Gruppe mit Verkürzung der Schlafzeiten waren. Interessanterweise waren die ausgeprägtesten Defizite gegen 8:00 Uhr morgens zu verzeichnen. Im Verlauf des Tages dann nahmen diese Defizite ab und erreichten ihr Minimum gegen 16:00 Uhr und 20:00 Uhr. Eine Verkürzung der Schlafzeit von acht Stunden auf vier Stunden pro Tag resultierte bei den Teilnehmern in einer 8,3 mal so hohen Fehlerquote um 8:00 Uhr morgens und 18:00 Uhr abends.

Die Autoren schließen daraus, dass der zirkadiane Rhythmus einen substantiellen modellierenden Effekt auf kognitive Defizite hat, die aus einem Schlafentzug resultieren. Interessanterweise scheint dieser modellierende Effekt zu bestimmten Tageszeiten in eine temporär schützende Fähigkeit zur Wachsamkeit „umzuschlagen“. Dies wurde vor allem für den späten Nachmittag und die frühen Abendstunden beobachtet.

Laut Einschätzung von Dr. Spork sind diese Ergebnisse eine Bestätigung dessen, was die moderne Schlafforschung bislang hat erarbeiten können. Die wichtigste Aufgabe des Schlafs besteht darin, „dem Nervensystem zu helfen, tags gewonnene Eindrücke zu verarbeiten“.

Es ist also nicht nur der physiologische Aspekt, der beim Schlaf wichtig ist, sondern auch die psychologische/psychische Seite. Eine Verkürzung der Schlafzeit, wie sie über ein halbes Jahr unter der „Sommerzeit“ praktiziert wird, ist der Hammer, der zwei Fliegen gleichzeitig erlegt: Beeinträchtigung der Regeneration physiologischer Vorgänge und Beeinträchtigung der Verarbeitung psychischer Vorgänge.

Dr. Spork sieht die „Sommerzeit“ als eine Bedingung, die mit den experimentellen Bedingungen in der Studie von Van Dongen et al. in der vorhin besprochenen Arbeit vergleichbar sind. Und dementsprechend können wir dementsprechende Ergebnisse erwarten.

Die Tatsache, dass keine kolossal augenfälligen Störungen eintreten, liegt in der Tatsache begründet, dass es aufgrund genetischer Unterschiede Menschen gibt, für die die Zeitverschiebung möglicherweise sogar einen Vorteil bedeutet. Allerdings bildet diese Gruppe mit rund 15 Prozent eine Minderheit. Im Gegenteil. Für die meisten Menschen passt der Gang ihrer inneren Uhr nicht zu dieser künstlich eingestellten Zeitverschiebung.

Das Argument, dass man bei einer Reise, je weiter desto ausgeprägter, Zeitverschiebungen und dementsprechend Jetlag in Kauf nehmen muss, trifft nicht den Kern des Problems, ist aber eine anscheinend gute Ausrede für die Befürworter der „Sommerzeit“.

Bei einer Reise wird zwar auch die Uhr vorgestellt oder nachgestellt, je nachdem wohin die Reise geht. Der alles entscheidende Unterschied hier ist jedoch, dass auch die Sonne früher oder später auf- und untergeht und damit Uhrzeit und Sonnenverlauf synchron verlaufen. Bei unserer „Sommerzeit“ jedoch wird nur die Uhr verstellt, nicht jedoch der Verlauf der Sonne.

Und dieser regelt unseren zirkadianen Rhythmus. Eine Verstellung der Uhrzeit bewirkt somit eine Störung dieses Rhythmus, was wiederum mit den entsprechenden physiologischen Konsequenzen einhergeht, die die beiden oben diskutierten Studien, neben anderen, beschreiben. Dr. Spork bezeichnet dies als eine „Verschiebung der Balance zwischen innerer und äußerer Zeitmessung“ im Organismus.

Noch mehr Wissenschaft zum Ignorieren

Seit dem April 2018 gibt es noch mehr Grund, wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema zu ignorieren. Eine zu diesem Zeitpunkt erschienene Arbeit untersuchte den Zusammenhang zwischen Chronotyp und Mortalität und Morbidität in Großbritannien. Unter Chronotyp wird hier die sehr wahrscheinlich genetisch determinierte Veranlagung verstanden, ob man am Tag früh aktiv ist oder erst gegen Abend munter wird.

Associations between chronotype, morbidity and mortality in the UK Biobank cohort. – PubMed – NCBI 

Die Autoren untersuchten über 430.000 Erwachsene im Alter zwischen 38 und 73 Jahren über den Zeitraum von sechseinhalb Jahren. Zunächst identifizierten die Autoren die „Morgentypen“ und die „Abendtypen“.

Bei der Analyse der Daten zwischen diesen beiden Gruppen zeigte sich, dass die Abendtypen, die aufgrund von beruflichen, sozialen und anderen Zwängen leben müssen wie die Morgentypen, ein 94-prozentiges erhöhtes Risiko für psychische Störungen haben, ein für Diabetes erhöhtes Risiko von 30 Prozent, neurologische Störungen von 25 Prozent, gastrointestinale Störungen von 23 Prozent und Atemwegserkrankungen von 22 Prozent.

Die Zahl der Todesfälle während dieser 6,5 Jahre belief sich auf über 10.500, von denen über 2100 Todesfälle aufgrund von kardiovaskulären Erkrankungen eintraten. Die Gesamtmortalität war für die Abendtypen mit zwei Prozent gegenüber den Morgentypen leicht erhöht. Die Mortalität aufgrund kardiovaskulärer Erkrankungen lag hier schon bei vier Prozent.

Bei der Diskussion der Ergebnisse folgerten die Autoren, dass das erhöhte Mortalitätsrisiko bei den Abendtypen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Tatsache begründet ist, dass aufgrund von Beruf und sozialen Verpflichtungen etc. es zu einer Fehlausrichtung zwischen dem inneren physiologischen Timing (persönliche Chronobiologie) und den äußeren Zeitvorgaben in Beruf und Familie und Gesellschaft kommt.

Die Autoren sehen die Notwendigkeit, die äußeren Bedingungen an die zirkadianen Gegebenheiten anzupassen, wie zum Beispiel durch veränderte Arbeitszeiten etc., um das Risiko für Mortalität und Morbidität zu senken.

Wenn wir hier also einen wissenschaftlichen Appell haben, der für die Abendtypen zirkadian verträgliche Arbeitszeiten etc. fordert, dann ist es umso unverständlicher, dass wir durch die halbjährliche Umstellung der Uhren diese Menschen zusätzlichen gesundheitlichen Belastungen aussetzen. Die Prozentzahlen mit zwei und vier Prozent mögen minimal aussehen. Sie sind aber, zusammen mit der Morbidität, die sich in einem weit höheren Maße erhöht, umgerechnet auf ein Millionenvolk ein massives Potenzial.

Ergo:

Für mich steht jedenfalls fest, dass die Marktschreier in der Politik, die bei jeder Gelegenheit eine „Kostenreduktion“ im Gesundheitswesen fordern und dafür die tollwütigsten Vorschläge auf den Tisch legen, erst einmal hier ansetzen sollen. Denn hier liegt extrem viel Potenzial für Verbesserungen vor, ohne dass große Investitionen gemacht werden müssen. Man braucht einfach nur im Frühjahr die Uhr nicht umzustellen, damit man im Herbst nicht die Uhr umstellen muss.

Aber unsere Politik hält sich strikt an das Motto: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht. Und wenn man dann noch effektiv Kosten reduzieren kann, dann ist das ganz schlecht, denn dann hat man kein politisches Thema mehr, über das man sich endlos auslassen und damit profilieren kann.

Scheinheilige Politik!

Auch das Argument der Politik, dass man sich hier im Rahmen der EU bewegen muss und keine „Alleingänge“ machen möchte, ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Denn diese Alleingänge sind schon längst gemacht worden, wenn auch nicht in diesem Bereich: Bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte verstieß man sogar gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der die damit verbundene Vorratsspeicherung von Daten als Verstoß gegen die Grundrechte zur Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten verurteilte.

Es wird immer offensichtlicher, dass man in der Politik von den Bürgern verlangt, Gesetze zu respektieren und befolgen, diese Politik selbst jedoch dazu nicht bereit ist, wenn es gegen die Interessen von Industrie und Politik geht.